2024 12

Thema Monatsgruß 06/2022

Flüchtlingen helfen – „Das Gute wächst durch das Gute“

 

Frank Witzel ist Pfarrer an St. Thomas in Augsburg und Traumatherapeut. Erfahrungen mit Krieg und Flucht kennt er aus der eigenen Familie. Seit seiner Schulzeit kümmert er sich um Geflüchtete. Für den Monatsgruß erklärt er, wie Hilfe für Flüchtlinge und Gewaltopfer gelingen kann und welche Aufgaben dabei auf Gemeinden und Kirchen warten. 

 

 

Warum helfen Menschen derzeit so viel mit spontanen Aktionen?

Frank Witzel: Da paaren sich Nächstenliebe und Abenteuerlust. Man fühlt sich lebendig, ressourcenvoll, erlebt Sinnerfüllung und „Anschluss“. Das ist seelisch gesund und macht glücklich.

 

Bei manchen Freiwilligen hierzulande macht sich erste Erschöpfung bemerkbar.

Frank Witzel: Ja, das gibt es: Menschen, die zuvor allein lebten, sind auf einmal mit anderen eng zusammen. Es gibt Konflikte wie in einer WG: Wer räumt auf, wer nicht? Das ist menschlich. Da soll sich auch niemand überfordern! Persönliche Grenzen umsichtig festzulegen ist gesund, richtig und wichtig.

 

Was verhindert, dass aus Hilfsbereitschaft Frust wird?

Frank Witzel: Nächstenliebe heißt auch, dass es dem Helfenden gut geht. Gutes wächst durch Gutes. Diesen „Flow“ meint der Bergprediger Jesus von Nazareth in den Seligpreisungen: „Glücklich zu preisen ist, wer Gutes tut.“ Ethik trifft auf Neurobiologie: Unsere Spiegelneuronen im Gehirn sorgen dafür, dass Helfende sich über Hilfe genauso freuen wie Empfangende. Aber dieser „Flow“ ist für beide Seiten nicht garantiert. Darum entspricht es helfender Reife, auch einen guten Ausstieg miteinzuplanen. Man kann z.B. sagen: „Ihr seid hier bei uns in der Wohnung herzlich willkommen für die nächsten drei Monate.“ So können sich Gäste zunächst einmal ausruhen, dann in fremder Umgebung eingewöhnen und gegebenenfalls zeitnah nach weiteren Perspektiven Ausschau halten. Das passiert oft ganz von allein, wenn man „Selbstwirksamkeit“, so das Fachwort, auf allen Seiten beachtet. 

 

 

Wem helfen wir? Oft wird gesagt, es sind traumatisierte Menschen.

Frank Witzel: Das stimmt bedingt. Denn die, die jetzt schon hier sind, können oft „selbstwirksam“ handeln. Sie kommen teilweise mit dem eigenen Auto, haben eine gute Bildung, sind finanziell relativ flexibel, gut vernetzt und können hilfreiche Kontakte knüpfen. Das läuft in meinem Erfahrungsbereich gut. Eigentlich müssten Geflüchteten aus allen Ländern so rasch in allgemeine Hilfssysteme und Arbeitsmöglichkeiten eingegliedert werden. Zugleich werden bald Menschen kommen, die länger im Kriegsgebiet ausharren mussten, die wenig bis nichts mehr haben. Häufigkeit und Schwere der Traumatisierungen werden zunehmen. Darum gilt: Hilfsstrukturen jetzt aufbauen! 

 

Woran erkennt man, dass man es mit traumatisierten Menschen zu tun hat?

Frank Witzel: Bei einer sogenannten Traumafolgereaktion sind Menschen in einem Dauer-Alarmzustand oder in einer Dauer-Rückzugs-reaktion, die sich in einem Fluchtverhalten oder depressiv äußern kann. Beides kann sich rasch abwechseln. Zugleich werden hilfreiche Vernetzungen im Denken geschwächt. Es entstehen „Dissoziationen“. Fähigkeiten und Begabungen sind nicht mehr präsent. Betroffene sind dabei oft in Gedanken-, Gefühls- und Wortschleifen gefangen, gerade dann, wenn neue Informationen verarbeitet werden müssen. So werden Problemlösungen und Krisenbewältigungen schwerer.
Betroffenen und Helfenden hilft es zu verstehen, was passiert. Mir ist die Traumapädagogik noch wichtiger als die -therapie. Aufklärung über Traumata hilft den Selbstheilungskräften, die Gott uns schenkt, in breiter Fläche.

 

Ist es nicht eine Überforderung, traumatisierte Menschen bei sich aufzunehmen?

Frank Witzel: Die gute Nachricht ist: Die Prognose ist gut. Zuerst einmal brauchen Menschen Sicherheit und Geborgenheit, Unterkunft, Essen und Trinken. Ihre Grundbedürfnisse, auch die nach „Anschluss“, müssen gestillt werden. Allein dadurch heilt schon ein Drittel von alleine. Ein weiteres Drittel braucht Traumatherapie zur Genesung und das letzte Drittel braucht Hilfe, um dauerhaft mit dem Trauma leben zu können. Die Heilungschancen sind im Vergleich sehr gut. Helfende sollen diese allgemein gute Prognose wissen. Ihre Hilfe wirkt effektiv. Aber Ausnahmen gibt es immer. Dann sollen Helfende sich schnell Hilfe holen. Denen, die Gutes tun, soll es auch gut gehen.

 

Eine Besonderheit ist, dass vor allem Frauen und Kinder zu uns kommen.

Frank Witzel: Ja! Wir sind dazu berufen, auf Kinder zu achten, denn Gott wurde als Kind geboren, Jesus hat Kinder gesegnet, als Kirche taufen wir kleine Kinder. Kinder sind die Zukunft der Welt. Wer sie beschützt, muss auch ihre Bezugspersonen, meist Frauen, schützen – unter anderem vor der Gewalt in unserer Gesellschaft. Ich denke, Politik schaut noch nicht genügend darauf, dass Mütter und Kinder z.B. vor Prostitution und Menschenhandel geschützt werden müssen.  

 

Alles spricht dafür, dass Geflüchtete länger bleiben, manche nie mehr zurückkehren werden. Was bedeutet das für die Kirche, welche Aufgaben hat sie?

Frank Witzel: Bei uns werden Menschen aus Russland und der Ukraine leben. Erste Konflikte gibt es schon. Wir werden von Versöhnung und Frieden in Gottes Namen reden müssen. Christen glauben, dass wir alle gleichwertige Ebenbilder Gottes sind. Begriffe wie Volk, Rasse und Nation sind dadurch relativ. Wir werden davon erzählen müssen, dass auch in unserer Kirche nach Zweitem Weltkrieg und Holocaust viele umkehren mussten, um Frieden zu ermöglichen. Umkehr braucht Klarheit, manchmal auch Zeit. 

 

Interview: Petra C. Harring

Monatsgruss

Thema Monatsgruß 12 | 2024  – 01 | 2025

500 Jahre Evangelisches Gesangbuch und Kirchenlied

 

Das erste Gesangbuch

Genau vor 500 Jahren erschien die erste reformatorische Liedersammlung. Das…

weiterlesen

Thema Monatsgruß 10 11 /2024

Kirchenvorstandswahl

 

Am Sonntag, 20. Oktober 2024, wählen die evangelischen Kirchen­gemeinden St. Johannes in Wasserburg sowie St. Stephan-Christuskirche und St.…

weiterlesen

Thema Monatsgruß 08 09 /2024

„Kraftorte im Urlaub“

 

Kraftorte in Lindau

In Lindau kann man direkt am See oder auch fernab des Touristenstroms herrlich neue Kraft tanken: ein schöner Spaziergang…

weiterlesen

Thema Monatsgruß 06 07 /2024

Sternenhimmel, Kant und Abraham

 

Mit den Konfirmandinnen und Konfirmanden waren zwei meiner Kollegen und ich kürzlich nachts unterwegs, oberhalb des…

weiterlesen

Thema Monatsgruß 04 05 /2024

Zurück an die Quelle – Zugänge zur Bibel

 

Die meisten von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, gehören wahrscheinlich zu der deutlichen Mehrheit von Menschen, die…

weiterlesen

Thema Monatsgruß 02 03/2024

Fasten

 

Manche Menschen beschäftigen sich in der Passionszeit nicht nur intensiver mit biblischen Texten, sondern sie fasten auch. Eine bekannte Fastenaktion der…

weiterlesen

Thema Monatsgruß 12/2023. 01/2024

Suchet der Stadt Bestes – ein Auftrag für Christinnen und Christen

 

Manchmal erschreckt es mich, wie wenig sich unsere Lebensweise als Christen von anderen…

weiterlesen

Thema Monatsgruß 10-11/2023

50 Jahre Orgel in St. Verena

Die Orgel in St. Verena wird 50 Jahre alt! Das ist ein Anlass für Sven Dartsch, den Organisten von St. Verena, über diese besondere
Orgel,…

weiterlesen

Thema Monatsgruß 09/2023

Konfirmation

 

Highlights mitten im Wandel – die Kurse für Jugendliche zur Vorbereitung auf die Konfirmation

Konfirmationsfeiern erfreuen sich nach wie vor großer…

weiterlesen

Thema Monatsgruß 06/2023

Wie kommt Gott in die Herzen, Hände oder Köpfe der Kinder?

Religionspädagogin Ute Keßler-Ploner und Pfarrer Jörg Hellmuth haben sich Gedanken zu dieser Frage gemacht. 

Ich…

weiterlesen

Thema Monatsgruß 04/2023

Die Welt ist bunt – Gott sei Dank!

Seit Januar dürfen in der EU nun auch Grillen und Getreideschimmelkäfer als Lebensmittel verkauft werden. Befürworter und…

weiterlesen

Thema Monatsgruß 02/2023

Ist die Kirchensteuer (noch) eine gute Idee?

Gedanken eines Nutznießers
Von Pfarrer Thomas Bovenschen

Um es gleich zu sagen: Die bei uns gängige Praxis, das Leben der weiterlesen

Thema Monatsgruß 12/2022 - 01/2023

Weihnachten in Sicherheit

Drei Interviews

Sicherheit erleben – diese Sehnsucht haben viele Menschen. Drei Gemeindemitglieder aus verschiedenen Alters- und

weiterlesen

Thema Monatsgruß 10/2022

Der evangelische Friedhof St. Verena

Der Friedhof rund um St. Verena in Lindau ist ein besonderer Ort: Er ist der einzige evangelische Friedhof in Lindau. Verwaltet wird er…

weiterlesen

Thema Monatsgruß 08/2022

Ruhe finden im Urlaub

In Lindau und Wasserburg tost während der Sommermonate das Leben. Da wird viel geboten – und wenn es auch nur ein schönes Relaxen in den Schwimmbädern…

weiterlesen

Thema Monatsgruß 04/2022

Weg von den Ängsten, hin zum Frieden

 

Gedanken zu einer schockierenden Entwicklung

Am zwölften Tag nach dem Überfall der russischen Streitkräfte auf die Ukraine zieht…

weiterlesen