Thema Monatsgruß 06 07 /2024
Sternenhimmel, Kant und Abraham
Mit den Konfirmandinnen und Konfirmanden waren zwei meiner Kollegen und ich kürzlich nachts unterwegs, oberhalb des Nieder-sonthofener Sees, vor dem Hauptkamm der Allgäuer Alpen.
Die Jugendlichen liefen schwatzend durch den Wald, und mit einem Mal öffnete sich vor uns ein prächtiger Allgäuer Sternenhimmel.
In dieser Gegend gab es kaum künstliches Licht, so dass die Sterne sich klar und prächtig entfalten konnten.
Ich musste an Immanuel Kant denken. Der Philosoph aus Königsberg in Ostpreußen wird dieses Jahr gefeiert, da er vor 300 Jahren am
22. April 1724 geboren worden ist. Einer seiner berühmtesten Sätze lautet: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.”
Was für ein schöner Satz! Kant spricht von Ehrfurcht, die der Sternenhimmel über ihm und das moralische Gesetz in ihm hervorruft. Ob er den Allgäuer Sternenhimmel im Sinne hatte? Sicher ist, dass Kant ein kluger Mensch war. Er war naturwissenschaftlich gebildet, kannte sich mit Physik, Astronomie und der Sternenwelt aus. Er hat sich in das Universum hineingedacht und sich gefragt: Was kann man wirklich in diesem Universum erkennen? Was lässt sich experimentell nachweisen? Die andere Frage, die ihn beschäftigte, war die Frage nach der richtigen Moral. Als philosophischer Aufklärer interessierte ihn, was richtiges Handeln für jeden Menschen bedeutet. Er wollte eine Ethik für alle Menschen entwerfen. Dabei hat er eine ganz einfache Antwort gefunden: Das menschliche Handeln ist dann gut, wenn es den Menschen als Menschen ernst nimmt. Behandle den anderen respektvoll, weil du ja selbst respektvoll behandelt werden willst. Diese Ethik ist heute aktueller denn je, weil sie verbietet, dass wir Menschen in Schubladen stecken und in Gute und Böse aufteilen. Sie geht vielmehr davon aus, dass jeder Mensch gleich viel wert ist, weil jeder eine Würde hat.
Der Allgäuer Sternenhimmel erinnert mich nicht nur an Immanuel Kant, sondern auch an Abraham. Er war ein Nomade, der mit seinen Schafen, Ziegen und Rindern durch die Lande zog, um neue Futter- und Wasserstellen zu finden. Sein großer Schmerz aber war, dass seine Frau keinen Nachkommen gebären konnte. In dieser Situation sprach Gott zu ihm: „Fürchte dich nicht, Abraham! Ich bin dein Schild und dein Lohn.“ Abraham erwiderte zweifelnd: „Herr, was willst du mir schon geben? Ich gehe dahin ohne Kinder.“ Und dann führte Gott ihn aus dem Zelt heraus und forderte ihn auf: „Betrachte den Himmel und zähle die Sterne –kannst du sie zählen?“
Und sprach zu ihm: „So zahlreich sollen deine Nachkommen sein!“ Und Abraham? Er glaubte ihm.
Der Blick an den Sternhimmel flößte Abraham neuen Mut ein. Jeder Stern, den er sieht, steht für das Unmögliche, das in seinem Leben möglich sein wird: Er wird Nachkommen bekommen und das Leben seiner Sippe wird gesichert sein.
Nachtgefühle, die Abraham beschleichen, kennen wir auch. Wo führt mein Leben hin? Habe ich etwas daraus gemacht? Stehe ich nicht vor einem Scherbenhaufen? Das Leben erscheint manchmal einfach grau, trostlos und frustrierend. Und dann kommt der Sternenhimmel ins Spiel. War da nicht diese Stimme, die sagt: „Schau auf zum Himmel und zähle die Sterne! Kannst du sie zählen?“ Sie ermutigt, auf den persönlichen Sternenhimmel zu schauen.
Wofür stehen die Sterne, die über mir aufleuchten? Für welche Wünsche, Träume und Hoffnungen? Wir sollten diesen funkelnden Sternen trauen – und vor allem darauf, dass das Leben, das Schicksal oder einfach Gott es mit uns gut meinen.
Das Bild vom Sternenhimmel verweist uns auch in die eigene Kindheit. Stand da nicht jemand an unserem Bettchen, der sang:
„Weißt du wieviel Sternlein stehen
an dem blauen Himmelszelt?
Weißt du wieviel Wolken gehen
weithin über alle Welt?
Gott der Herr hat sie gezählet,
dass ihm auch nicht eines fehlet
an der ganzen großen Zahl.“
Wissen wir nicht schon von klein auf, dass wir in diesem unfassbaren Kosmos letztlich doch geborgen sind? Dass jeder von uns wie ein Stern ist, der verborgene Energie und Zukunft in sich trägt?
Pfarrer Jörg Hellmuth